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Anlage 2:  Das asymmetrische Bauen "von innen nach außen" am Schlossgebäude Wiligrad

 

Ab Einzug der „symmetrischen“ Renaissance-Bauweise in Deutschland - besonders während des Barock und des Klassizismus - dominierte die Fassadengestaltung den Hausbau.

 

Bei vornehmen Wohnhäusern und Schlössern widmete man sich nach ersten Überlegungen - zur Anzahl der Zimmer und Größe des Objektes - vordringlich dem Fassadenentwurf.

 

Das äußere Erscheinungsbild des Hauses musste stimmen!

Das barocke oder klassizistische Bauwerk verfügte - zumindest in der selben Etage - weitgehend über eine einheitliche Fenster-Gestalt, Fenster-Größe und Fenster-Anordnung.

Im Allgemeinen äußerten die Bauherren keine individuellen Sonderwünsche in Bezug auf das Erscheinungsbild des einen oder anderen Fensters.

 

Die Gestalt der Räume und die Anordnung der Fenster und Türen in den Räumen hatten sich häufig nach dem Diktat des "Äußeren" - der Fassade - zu richten. Man baute also "von AUSSEN nach INNEN"!

  

 

Nach dem Ab-Ebben des Klassizismus schwappten aus England neue Ideen in Sachen des vornehmen Wohnhausbaus auf den Kontinent über, die ab 1860 zum Postulat einer neuen Bauauffassung führten - das asymmetrische Bauen von INNEN nach AUSSEN!

   

Funktionalistische Forderung:

 

Ein Wohngebäude ist „von innen nach außen“ zu planen, wodurch sich die äußere Struktur und damit die Fassade des Baukörpers an den „von innen her“ vorgegebenen Grundriss  anzupassen hat. 

Damit verband sich auch die Idee der asymmetrisch, zweckentsprechenden Grundrissgestaltung (incl. einer optimalen Fenster- und Türanordnung) und der daraus resultierenden freien Gruppierung der Baukörper.

[BRÖNNER,W;  Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830 - 1900; Worm 2009; S. 169 u. 187]

 

Vorbild der Architekten war dabei das „englische Landhaus“, welches diese Bedingung häufig erfüllte.

 

Der Entwurf des Herrschaftsflügel-Grundrisses vom Schloss Wiligrad erfolgte durch Albrecht Haupt nach den Prinzipien des asymmetrischen „Bauens von innen nach außen“- gemäß einer vom Architekten Edwin Oppler für "englische Landhäuser" favorisierten Verfahrensweise (Siehe Abb. 1) der „Hannoverschen Schule“, (Hauptanwendungszeit 1860-1900).

 

Ausgangspunkt der Planung ist die zentrale Halle, alle herrschaftlichen Räume schließen an die Halle an und schieben sich von diesem Zentrum her nach außen, wobei sie sich je nach benötigter Größe ausdehnen können.

[Kompositionsprinzip - ursprünglich angewandt auf die Villa Cahn in Bonn/Rhein - entnommen: Brönner, Wolfgang; Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830-1900, Worms, 2009, S. 169]

 

Auch die Gebäudevorsprünge, welche aus der Notwendigkeit einer sinnvollen Raumnutzung bzw. Raumerweiterung heraus - an mancher Stelle der Fassade (incl. des Küchenraumes im Wirtschaftsflügel)- entstanden sind, verkörperten das Prinzip des Bauens von innen nach außen!

 

 

Abb. 1) Schloss Wiligrad, Grundriss des Erdgeschosses von Herrschaftsflügel und Küchentrakt;

spezielles Entwurfsprinzip für den Herrschaftsflügel: alle herrschaftlichen Räume schieben sich bis hin zur benötigten Größe von einem Zentrum her (Empfangs-Halle) nach außen  und enden zum Teil in Gebäudevorsprüngen (Großes Kabinett u. herrschaftlicher Hauseingangsraum mit flacher Treppe); Entwurfsprinzip für den Küchentrakt: der Raum für die Schlossküche wird gemäß des tatsächlichen Platzbedarfs durch einen Gebäudevorsprung vergrößert; einfache Raumerweiterung am herrschaftlichen Salon: Anfügen eines ebenerdigen Stand-Erkers (Auslucht, allseitig mit großen Fenstern ausgestattet) nach dem Prinzip der englischen "bay windows"

 

 

Beim strikten Anwenden des „Bauens von innen nach außen“ kam es nicht mehr darauf an, die Fassade eines Wohngebäudes symmetrisch zu gestalten. Nur in ausgewählten Fassadenabschnitten - z. B. im Bereich von breiten Gebäudevorsprüngen (Risaliten) und an manchen schmalen Giebelseiten wurde noch Wert auf die symmetrische Anordnung von Fenstern und Erkern gelegt. Auch Zwerchhäuser (Ausbauten auf den Dächern) und Blend-Giebel erhielten "naturgemäß" eine symmetrische Ausschmückung.

Damit erreichte man in der Regel einer Aufwertung des Erscheinungsbildes der ganzen betroffenen Gebäudeseite.

 

Abb. 2) Gebäudevorsprung mit symmetrisch angeordneten Giebelschmuck, Erkern und Fensterflächen an der insgesamt asymmetrischen Ost-Fassade des Herrschaftsflügels, unterschiedliche Fenstergestalt im Erdgeschoss zwischen dem Arbeitszimmer des Herzogs ("Großes Kabinett" - im Gebäudevorsprung, mit Rundbogen-Drillingsfenster) sowie seiner Bibliothek (links vom Gebäudevorsprung, mit Rundbogen-Drillingsfenster) und dem Schreibzimmer der Herzogin (rechts vom Eckturm, mit Rundbogen-Zwillingsfenster)

 

Die Lage und Form der Fenster im jeweiligen Gesellschafts-, Wohn-, Arbeits-, Sanitär- oder Schlafraum wurde vor allem nach solchen praktischen Gesichtspunkten gewählt, die eine optimale Raumnutzung förderten.

 

Mit seiner Fassadenplanung am Schlossgebäude Wiligrad - besonders an der Ost-, Süd- und Westseite des Herrschaftsflügels - sorgte Albrecht Haupt dafür, dass sich an der Größe der Fensterfläche und ihrer individuellen Gestalt bzw. Ausschmückung in der Regel die gesellschaftliche Wertigkeit der Raum-Nutzung erkennen ließ. Offensichtlich war dem Bauherrn Johann Albrecht an dieser Verfahrensweise gelegen.

Wichtige Zimmer erhielten stattliche Fenster-Einfassungen - weniger wichtige Zimmer bekamen bescheidene Einrahmungen. Durch die Anwendung des "Johann-Albrecht-Terrakottastiles" am Herrschaftsflügel des Schlosses Wiligrad war das unterschiedliche Gestalten der Fenster-Einfassungen leicht möglich.

 

Auf der Nordseite des Herrschaftsflügels, d.h. der Empfangsseite des Schlosses, erhielten das "Vorzimmer" des herzoglichen Arbeitstraktes und das alltägliche genutzte "Kleine Kabinett" allerdings sehr vornehme Fenster-Einfassungen -  vermutlich aus Gründen der allgemeinen Schloss-Repräsentation (Siehe Haupttext, Pkt. 3.1 - Schlossansichten)!

 

Abb. 3) West-Fassade des Herrschaftsflügels, die Fensterachse der rechten Hälfte des Zwillings-Dachgiebels weicht deutlich von den darunter befindlichen Fensterachsen der rechten Gebäudeseite im Ober- und im Erdgeschoss ab; alle Fenster der Westfassade (Erdgeschoss u. Obergeschoss) des Herrschaftsflügels besitzen eine unterschiedliche Form und Ausschmückung - teilweise auch eine unterschiedliche Größe

 

Zu Zeiten des Barock oder Klassizismus hätte der Architekt die Giebelseite auf der Abb. 3 garantiert symmetrisch gestaltet - mit beidseitig untereinander liegenden Fensterachsen zwischen Dachbereich und Erdgeschoss und mit einheitlichen Fensterformen, zumindest einheitlich in jeder Geschossebene.

 

Die Fenster-Formen und die Fenster-Größe in der West-Fassade (Abb. 3) wurden von Albrecht Haupt - wohl mit Zustimmung des Bauherrn - nach der Wertigkeit der Raumnutzung ausgewählt:

 

 im Erdgeschoss des Herrschaftsflügels:

 * Rundbogen-Drillingsfenster für den Speisesaal

 * Einfaches Rundbogenfenster für das Frühstückszimmer

  

im Obergeschoss des Herrschaftsflügels:

* Rechteckiges Drillingsfenster für den Ankleideraum der Herzogin

 * Rechteckiges Zwillingsfenster für den Aufenthaltsraum der Garderobenfrau

 

Die beiden Fensterkonstrukte des Speisen-Anrichtraumes, welche sich im backsteinernen Wirtschaftsflügel (links vom Rundbogen-Drillingsfenster des Speisesaales, unter dem Balkon) befinden, wurden in einer sehr ungewöhnlichen Bauweise ausgeführt, die freilich eine große Helligkeit zum Anrichten der Speisen gewährleistet: jedes Konstrukt besteht aus zwei selbständigen, übereinander eingesetzten Segmentbogenfenstern - eine Lösung im Sinne des "Bauens von innen nach außen"! (Siehe Abb. 3 u. 4)

Durch das Einbauen von zwei übereinander sitzenden Fenstern anstelle eines sehr hohen, durchgängigen Fensters konnte Albrecht Haupt außerdem verhindern, dass die Dominanz des daneben liegenden, rundbogigen Speisezimmer-Drillingsfenster eventuell eingeschränkt worden wäre! 

 

 

 

Abb. 4) Küchentrakt im Wirtschaftsflügel mit dem Anrichtraum (unter dem Sandstein-Balkon), direkt darunter im Tiefparterre die Spülküche und links davon - in der Raumhöhe Tiefparterre und Erdgeschoss umfassend - die große Schlossküche mit weit nach unten abgesenkten, vergitterten Fenstern. Der Schlossküchenraum wurde im Sinne des "Bauens von innen nach außen" durch einen Gebäudevorsprung deutlich erweitert (Siehe Abb. 1). Das wirkte sich auch positiv auf die Größe des darüber befindlichen, herrschaftlichen Gäste-Wohnzimmers (1. Obergeschoss) und des Kabinetts der Hofdame (2. Obergeschoss) aus!

 

 

Abb. 5) Süd-Fassade des Herrschaftsflügels, mit einem Zwillings-Blendgiebel im Dachgeschoss und einer dazu symmetrischer Fensteranordnung im 2. Obergeschoss; die Fensterachsen des 1. Obergeschosses und des Erdgeschosses liegen nicht symmetrisch zum Zwillings-Blendgiebel; im Erdgeschoss sind stark voneinander abweichende Fensterformen vorhanden; auf der Frontseite des zum herzoglichen Salons gehörenden, typisch englischen Stand-Erkers ("bay window") wurde ein rechteckiges, rahmenloses  Panorama-Fenster, an den beiden Seitenwänden des Standgiebels je ein Rundbogen-Zwillingsfenster und in der Wand zum Schreibzimmer der Herzogin ein recht schlichtes Rundbogenfenster eingebaut - alles entworfen im Sinne eines asymmetrischen "Bauens von innen nach außen"!

 

 

Das Prinzip des asymmetrischen „Bauens von innen nach außen“ wurde im deutschen Kaiserreich (1871 –1918) gern von Vertretern der „Hannoverschen Schule“ angewandt.

 

Das vormalige, deutsche Kürfürstentum und spätere Königreich Hannover (1814-1866) war durch eine lange gemeinsame Geschichte stark mit England verbunden (Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover von 1714 bis 1837).

 

Folglich trafen englische Ideen - wie das asymmetrische Bauen von innen nach außen - in Hannover auf besonders fruchtbaren Boden.

 

Der Architekt des Schlosses Wiligrad, Albrecht Haupt, hatte in Hannover studiert und seine beiden ersten, beruflich prägenden Jahre hier im Architekturbüro des "Star-Architekten" Edwin Oppler verbracht - eines maßgeblichen Vertreters der "Hannoverschen Schule"!

Für den Entwurf des "Herrensitzes Wiligrad" griff Albrecht Haupt auch auf  Prinzipien des "Bauens von innen nach außen“ zurück - ebenso auf ein spezielles Kompositionsprinzip zum Anordnen der Repräsentationsräume im Erdgeschoss des Herrschaftsflügels - entlehnt einer Idee von Edwin Oppler!

NACHWEISE ZU DEN LITERATUR-QUELLEN

 

 

 

 Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830 - 1900 

 Verfasser:                   Wolfgang Brönner

 Verlag:                       Wernersche  Verlagsgesellschaft mbH, Worms 2009

   

Sachverhalt:               - Hinweise zur Idee des „Bauens von innen nach außen“ in Deutschland ab den 1850er Jahren (S. 20/21) in Bezug auf das „Bürgerliche Familienhaus“

  

                                   - Vorstellen von vornehmen, neogotischen Wohngebäuden, geschaffen zwischen 1855 u. 1890 von Architekten der „Hannoverschen Schule“, mit allgemeinen Hinweisen zum Bauen von innen nach außen (S. 155 - 189)

 

 - Vorstellen von Bauten des „Star-Architekten“ Edwin Oppler (speziell der Villa Cahn in Bonn/Plittersdorf, errichtet 1867/72) mit Hinweisen zum Opplerschen Grundriss-Kompositionsprinzip für „englische“ Wohnbauten. Prinzip: Ausgangspunkt der Planung ist die zentrale Halle, alle herrschaftlichen Räume schließen an die Halle an und schieben sich von diesem Zentrum her nach außen, wobei sie sich je nach benötigter Größe ausdehnen können (S. 166 – 172, besonders S. 169)

 

 

 

Die Villa Cahn in Bonn-Plittersdorf: ein „deutsches Haus“ am Rhein (Geschichte u. Architektur)

Verfasser:                   Wolfgang Brönner

Verlag:                       B. Pachem Verlag, Köln, 1991

 

 

Sachverhalt:               - Die Persönlichkeiten des deutsch-jüdischen Architekten Edwin Oppler und seines deutsch-jüdischen Auftraggebers

 

                                   - Vorstellen der Ansichten und Grundrisse der Villa Cahn (Tafel II, Bild 29, 36, u. 37)

 

                                   - „englische“ Anregungen für die Villa Cahn und andere, englisch geprägte Wohnhäuser aus dem Atelier E. Opplers (Die "Empfangs-" bzw. Eingangs-Halle wird zum zentralen Erschließungsraum für das ganze Haus); Einflüsse anderer, "malerisch planender" Architekten (z. B. Violett-le-Duc, Ungewitter) auf die Bauten von E. Oppler (S. 62 -64) und damit eventuell auch auf das Bauwerk "Schloss Wiligrad" des Oppler-Schülers Albrecht Haupt

                             

- Verweis auf die Gestaltung des herrschaftlichen Hauszugang der Villa Cahn, bei der sich oberhalb der Eingangstreppe ein Balkon befindet, welcher  vor dem Fensterband der zentralen Halle - im Obergeschoss - liegt (Eingangsbereich und direktes bauliches Umfeld stellen ggf. eine Anregung für Schloss Wiligrad dar)

 

 

 

 

 

 

NACHWEISE ZU DEN ABBILDUNGEN

 

 

Abb. 1) Schloss Wiligrad, Grundriss Erdgeschoss;

Herrschaftsflügel und Küchentrakt im Wirtschaftsflügel

 

Architekt und Bauzeichnung: Albrecht Haupt (Hannover)

  

Quelle:  „Die Architektur des Schlosses Wiligrad in Mecklenburg“

Sonderausgabe eines Zeitschriftenartikels

C. W. Kreidel´s Verlag, Wiesbaden 1903

  

Verfasser:       Albrecht Haupt (1852 – 1932)

 

Ursprungsdokument im o.g. Zeitschriftenartikel:

Schloss Wiligrad; Erdgeschoss - Blatt 1 (A3-Format)

  

Die Original-Zeichnung ist beschnitten (Abtrennen des größten Teiles vom Wirtschaftsflügel). Gebäudevorsprünge wurden mit farbigen Kreislinien markiert!

  

Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

 

 

 Abb. 2) Ansicht des Schlosses Wiligrad, im Original des Zeitschriftenartikels „Westseite“ genannt,

 in Wirklichkeit jedoch die „Ostseite“ darstellend!

 

 Architekt und ursprüngliche Bauzeichnung: Albrecht Haupt (Hannover)  

  

Quelle:  „Die Architektur des Schlosses Wiligrad in Mecklenburg“

Sonderausgabe eines Zeitschriftenartikels

 C. W. Kreidel´s Verlag, Wiesbaden 1903

  

Verfasser:       Albrecht Haupt (1852 – 1932)

 

Ursprungsdokument im o.g. Zeitschriftenartikel:

Schloss Wiligrad; Westseite (in Wahrheit Ostseite),  A3-Format

  

Die Original-Zeichnung ist am rechten Rand beschnitten und zeigt nur den Herrschaftsflügel nebst Treppenturm, ein Gebäudevorsprung wurde mit einer farbigen Rechteckrahmen eingefasst!

 

Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.

 

 

 

Abb. 3, 4 u. 5

stammen vom Verfasser des Artikels und sind bereits im Abbildungsnachweis zum Haupttext beschrieben